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Gewährt Ihr Arbeitgeber Ihnen und Ihren Kollegen finanzielle Extras oder auch Vergünstigungen, ohne dazu eine ausdrückliche Regelung getroffen zu haben, haben Sie Glück. Denn wenn er die entsprechende Zahlung später aussetzt oder die Vergünstigung einstellt, sollten Sie und Ihre Kollegen prüfen, ob Sie sich auf ein Gewohnheitsrecht – die betriebliche Übung – berufen können. Denn ist so eine betriebliche Übung entstanden, haben Sie auch weiterhin Anspruch auf die entsprechende Leistung. Lesen Sie im Folgenden, wie eine betriebliche Übung entsteht, damit Sie immer gut gewappnet sind, wenn Ihr Arbeitgeber eine Leistung streichen will.
Betriebliche Übung
Eine betriebliche Übung liegt dann vor, wenn die Arbeitnehmer aus dem Verhalten des Arbeitgebers folgern können, dass es sich um eine auf Dauer angelegte Handhabung handelt, die er auch künftig einhalten wird.
Was genau eine betriebliche Übung ist
Die Definition hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) bereits vor ein paar Jahren aufgestellt: Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, dass sie eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer erhalten (BAG, 23.8.2017, Az. 10 AZR 136/17).
Die betriebliche Übung hat immer einen kollektiven Bezug
Für die Entstehung einer betrieblichen Übung genügt es nicht, dass Ihr Arbeitgeber einem einzelnen Kollegen wiederholt bestimmte Leistungen gewährt (BAG, 25.4.2018, Az. 5 AZR 85/17). Maßgeblich ist vielmehr immer ein kollektiver Bezug. Das heißt: Eine betriebliche Übung kann nur dann entstehen, wenn eine klar abgrenzbare Gruppe von Arbeitnehmern bzw. alle Arbeitnehmer von der jeweiligen Leistung des Arbeitgebers oder Vergünstigung profitieren.
Alle können die jeweiligen Ansprüche geltend machen
Ansprüche aus betrieblicher Übung können alle Arbeitnehmer bzw. alle Kollegen der begünstigten Gruppe geltend machen. Das gilt auch dann, wenn ein Kollege die Vergünstigung bislang noch nie erhalten hat – z. B. weil er die entsprechenden Voraussetzungen nicht erfüllte. Deshalb haben auch erst kürzlich eingestellte Kollegen unter Umständen einen Anspruch.
Ihr Arbeitgeber muss über solche Zahlungen nicht informieren
Eine Mitteilung über die an bestimmte Arbeitnehmer erfolgten Zahlungen gegenüber den übrigen Arbeitnehmern ist ebenso wenig erforderlich wie eine allgemeine Veröffentlichung im Betrieb. Das BAG geht vielmehr davon aus, dass derartige begünstigende Leistungen erfahrungsgemäß auch anderweitig allgemein bekannt werden (BAG, 28.5.2008, Az. 10 AZR 274/07). Machen Sie als Betriebsrat es sich deshalb zur Aufgabe, Ihre Kolleginnen und Kollegen über Sonderzahlungen bzw. Vergünstigungen zu unterrichten, die sie betreffen.
Rechtsprechung zur betrieblichen Übung
Für den Fall jährlicher Leistungen an die gesamte Belegschaft (z. B. Gratifikationen) hat das BAG ausnahmsweise festgelegt, dass ein Anspruch aus betrieblicher Übung entsteht, wenn der Arbeitgeber die Leistung in 3 aufeinanderfolgenden Jahren vorbehaltlos in gleichbleibender Höhe gezahlt hat (24.3.2010, Az. 10 AZR 43/09). Das Entstehen einer betrieblichen Übung ist in dem Fall inzwischen sogar auch dann möglich, wenn die Sonderzuwendungen in der Vergangenheit jeweils in unterschiedlicher Höhe geleistet wurden.
Betriebliche Übung kann für alle Arbeitsbedingungen entstehen
Eine betriebliche Übung kann in Bezug auf alle Arbeitsbedingungen begründet werden, die auch Inhalt einer ausdrücklichen Vereinbarung sein können. In der Praxis gilt das in erster Linie für Zahlungen, die Ihr Arbeitgeber Ihnen und Ihren Kollegen gewährt. Bei den jeweiligen Zahlungen kommt es nicht darauf an, ob es sich um einen regelmäßigen Vergütungsbestandteil oder eine einmalige Zahlung handelt. Zudem können auch alle sonstigen Begünstigungen Gegenstand einer betrieblichen Übung sein.
Vertragliche Rechtsgrundlagen haben Vorrang
Eine betriebliche Übung kann von vornherein nicht entstehen, wenn Ihr Arbeitgeber die betreffende Leistung auf Grundlage des Arbeitsvertrags, einer Betriebsvereinbarung oder eines Tarifvertrags gewährt. Deshalb entsteht Ihnen und Ihren Kollegen kein Anspruch auf Leistungen aus betrieblicher Übung, wenn Ihr Arbeitgeber zu deren Gewährung aufgrund eines Arbeitsvertrags, einer Betriebsvereinbarung oder eines Tarifvertrags verpflichtet ist und das für die Betroffenen auch erkennbar ist (BAG, 23.8.2017, Az. 10 AZR 136/17).
Ansprüche aus betrieblicher Übung entstehen darüber hinaus auch nicht, wenn Ihr Arbeitgeber irrtümlich meint, zu einer bestimmten Leistung aufgrund einer Rechtsnorm verpflichtet zu sein. Maßgeblich ist nur, dass aus Ihrer bzw. der Sicht des begünstigten Kollegen die Leistung Ihres Arbeitgebers aufgrund einer Rechtspflicht erfolgt, auch wenn diese in Wirklichkeit gar nicht besteht (BAG, 11.7.2018, Az. 4 AZR 444/17).
Wie Ihr Arbeitgeber das Entstehen einer betrieblichen Übung verhindern kann
Um das Entstehen einer betrieblichen Übung zu verhindern, leisten viele Arbeitgeber solche Zahlungen ausdrücklich freiwillig unter Vorbehalt. Der entsprechende Freiwilligkeitsvorbehalt wird Ihnen und Ihren Kollegen in solchen Fällen entweder in einer gesonderten Vereinbarung zu der Zahlung vorgelegt oder Ihr Arbeitgeber nimmt ihn direkt in den Arbeitsvertrag auf.
Wie auch immer er sich entscheidet, klar ist: Gibt es Zweifel an dem Bestand einer entsprechenden Regelung, muss er diese nachweisen. Deshalb wird sich Ihr Arbeitgeber von den Begünstigten den Erhalt einer Vereinbarung über den Freiwilligkeitsvorbehalt quittieren lassen.
Wie Ihr Arbeitgeber eine einmal entstandene betriebliche Übung wieder loswerden kann
Die gute Nachricht für Sie und Ihre Kollegen: Ist eine betriebliche Übung erst einmal entstanden, hat Ihr Arbeitgeber nur wenig Möglichkeiten, sie wieder zu beseitigen. Die in der Praxis früher übliche Vorgehensweise, nämlich eine einmal entstandene betriebliche Übung durch eine gegenläufige betriebliche Übung wieder zu beseitigen, ist nicht mehr möglich. Diesen Grundsatz hat das BAG bereits vor vielen Jahren verworfen (18.3.2009, Az. 10 AZR 281/08). Das hält einige Arbeitgeber allerdings weiterhin nicht davon ab, so vorzugehen.
Tipp: Weisen Wie den Arbeitgeber darauf hin
Versucht Ihr Arbeitgeber, einer klar entstandenen betrieblichen Übung durch die Aufnahme eines Freiwilligkeitsvorbehalts bei jeder Zahlung entgegenzuwirken, stellen Sie als Betriebsrat ihm gegenüber klar, dass er sie auf diesem Weg nicht mehr erfolgreich aus dem Weg räumen kann. Er riskiert, spätestens vor Gericht damit zu scheitern, wenn Ihre Kollegen dagegen klagen.
Beispiel: Aufnahme Freiwilligkeitsvorbehalt zur Beseitigung einer betrieblichen Übung
Stellen Sie sich Folgendes vor: Ihr Arbeitgeber hat Ihnen und Ihren Kollegen das Weihnachtsgeld bis dato vorbehaltlos jährlich mit dem Novembergehalt ausgezahlt. Das hat er über viele Jahre kommentarlos so durchgeführt. Deshalb ist eine betriebliche Übung entstanden.
Übersicht: Diese 3 Schritte zur Entstehung einer betrieblichen Übung sollten Sie kennen
| Schritte | Erläuterung |
| 1. Schritt | Ihr Arbeitgeber gewährt Ihnen und Ihren Kollegen wiederholt bestimmte Leistungen oder Vergünstigungen. |
| 2. Schritt | Können Sie bzw. Ihre begünstigten Kollegen aus diesem Verhalten Ihres Arbeitgebers und den damit verbundenen Begleitumständen schließen, dass Ihnen diese Leistung oder Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden soll, wird die Leistung/Vergünstigung rechtlich als Vertragsbestandteil gewertet. |
| 3. Schritt | Sie und Ihre begünstigten Kollegen nehmen das entsprechende Vertragsangebot an, indem Sie die Leistung/Vergünstigungen widerspruchslos entgegennehmen. Dadurch haben Sie künftig einen vertraglichen Anspruch auf die Leistungen bzw. Vergünstigungen Ihres Arbeitgebers. Eine betriebliche Übung ist entstanden. |
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Betriebliche Übung bei Arbeitszeit
Eine betriebliche Übung kann nicht nur für die Gewährung von Geld- und Sachleistungen gelten, sondern auch die Arbeitszeit beeinflussen. Für den Beginn und das Ende gibt es allerdings keine betriebliche Übung. Im Hinblick auf die Entlohnung bzw. den Freizeitausgleich bei Überstunden kann hingegen eine betriebliche Übung entstehen.
Weil sich die wirtschaftliche Situation des Betriebs verschlechtert hat, möchte er die betriebliche Übung für die Zukunft abschaffen. Er zahlt deshalb in 3 aufeinanderfolgenden Jahren weiterhin das Weihnachtsgeld zusammen mit dem Novembergehalt, jetzt allerdings unter dem Vorbehalt, dass kein Rechtsanspruch besteht.
Bis zur BAGEntscheidung aus 2009 hätte Ihr Arbeitgeber die betriebliche Übung auf diese Art und Weise ziemlich sicher erfolgreich beseitigen können. Das funktioniert inzwischen allerdings nicht mehr. Auch eine 3malige widerspruchslose Entgegennahme des unter Vorbehalt geleisteten Weihnachtsgelds beseitigt nicht seine Verpflichtung zu dessen weiterer Zahlung.
Ablösende Betriebsvereinbarung
Ihr Arbeitgeber könnte unter Umständen auch versuchen, durch den Abschluss einer Betriebsvereinbarung mit Ihnen als Betriebsrat sich aus einer betrieblichen Übung zu lösen. Das ist möglich, wenn die Ansprüche aus betrieblicher Übung einer Änderung durch die Betriebsvereinbarung zugänglich sind. Das lässt sich allerdings nicht allgemein bejahen.
Einen durch betriebliche Übung entstandenen Anspruch können Sie deshalb nur dann durch eine Betriebsvereinbarung beseitigen, wenn Ihr Arbeitgeber – ähnlich wie beim Freiwilligkeitsvorbehalt – die Leistungen unter dem Vorbehalt einer ablösenden Betriebsvereinbarung gezahlt hat. Prüfen Sie das in jedem Fall!
Ablösende Betriebsvereinbarung nur in begründeten Fällen
Als Betriebsrat werden Sie sich sicherlich nicht ohne Weiteres auf eine Betriebsvereinbarung einlassen, die Ihre Kollegen schlechterstellt. Nichtsdestotrotz kann es natürlich Gründe geben, die dafür sprechen, dass eine freiwillige Leistung in einem Jahr einmal ausfällt, z. B. weil die wirtschaftliche Lage des Unternehmens derart kritisch ist, dass jeder noch so kleine Betrag hilft.
Tipp: Vorübergehenden Verzicht prüfen
In solchen Fällen sollten Sie auf jeden Fall zumindest erst einen zeitlich begrenzten Verzicht prüfen. Das könnte Arbeitsplätze retten. Auf eine ablösende Betriebsvereinbarung sollten Sie sich hingegen nur einlassen, wenn die entsprechenden Regelungen für Ihre Kolleginnen und Kollegen nicht ungünstiger sind, z. B. weil es lediglich um eine Umverteilung geht.
Individuelle Vereinbarungen als Ausweg
Am einfachsten wird Ihr Arbeitgeber eine entsprechende betriebliche Übung aus dem Weg räumen können, indem er sich mit den Begünstigten auf eine individuelle Vereinbarung einigt, durch die die jeweiligen Kollegen einen freiwilligen Verzicht erklären. Daran sind Sie als Betriebsrat nicht zu beteiligen, da es sich um individuelle Verzichtserklärungen handelt. Sie sollten Ihren Kolleginnen und Kollegen dennoch mit Rat und Tat zur Seite stehen. Im Zweifel wird Ihr Arbeitgeber sie entweder mit dem Argument wirtschaftlicher Schwierigkeiten unter Druck setzen oder ihnen eine Umverteilung in irgendeiner Form anbieten, die sie dann allerdings häufig auch finanziell schlechterstellt.
Für Ihre Kolleginnen und Kollegen gilt es an dieser Stelle, sich ein realistisches Bild der Situation des Betriebs zu machen. Sie müssen abwägen, inwieweit Ihr Arbeitgeber lediglich versucht, Kosten zu sparen, und inwieweit er tatsächlich auf ihre Unterstützung angewiesen ist. Abhängig davon sollten sie sich – und im Zweifel auch Sie als Betriebsrat – auf eine Vereinbarung einlassen.
Sehen sich Ihre Kolleginnen und Kollegen gezwungen, eine solche Vereinbarung zu unterschreiben, sollten sie einen möglichen Verzicht nur zeitlich begrenzt auf etwa bis zu 2 Jahre ausüben und ausdrücklich festlegen, dass die freiwillige Leistung im Anschluss wieder gezahlt wird. Einen Verzicht „nur auf die betriebliche Übung“ sollten sie keinesfalls erklären.
Übersicht: Wichtige Anwendungsfälle einer betrieblichen Übung
| Hier kann eine betriebliche Übung entstehen: |
| Gewährung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld, übertariflichen Leistungen und Wechselschichtzuschlägen |
| Vergütung von Bereitschaftsdiensten |
| Jubiläumszuwendungen |
| Gewährung von Essens- und Fahrtkostenzuschüssen sowie Beihilfen |
| Großzügige Urlaubsübertragungen |
| Kostenlose Nutzung von Betriebsparkplätzen |
| Gewährung einer betrieblichen Altersversorgung |
| Sonderzuwendungen für Betriebsrentner |
| Nichtanrechnung von Tariferhöhungen auf freiwillige Zahlungen |
| Übernahme der Pauschalsteuer bei geringfügiger Beschäftigung |
| Gewährung von Freizeit an Heiligabend, Silvester etc. |
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